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Der letzte Sonnenbrand des Jahres

Blog

[17. November 2020]

Die Stimme des Fischers scheppert durch das Megafon auf seinem grauen Pick-up. Auf Griechisch wiederholt er immer wieder die beiden Fischsorten, die er letzte Nacht gefangen hat – und heute deswegen im Angebot sind. Zwei Monate lang habe ich mich gefragt, welche das wohl sind.

Die Reflexion der Sonne im Meer lenkt mich ab. Der Himmel hat heute keinen Platz für Wolken. Meine Haut außerhalb des bananengelben Bikinis aus einer Zeit, in der es offensichtlich okay war, Brustwarzen durch stretchiges Polyamid schimmern zu sehen, wird wohlig warm. UV-Strahlen machen sich daran, mein Erscheinungsbild zehn Jahre nach vorn zu katapultieren und meine Lebenserwartung um zehn Jahre zu verringern. Ich würde also mit 60 sterben wie eine 70-Jährige. Aber ich würde auch heute gehabt haben: einen Novembertag mit so viel Sonne, dass sich die vernünftigen Menschen fleißig eincremen. 

Der bedrohliche Sturm der letzten Tage ist zu einem willkommenen Lüftchen geworden. Er trägt Kräuteraromen, Weichspülernoten und Sonnenmilchduft. Es riecht sauber, süß und mir wird plötzlich schwer ums Herz. Gedanken an einen Winter ohne Meerblick, ohne Wellenrauschen und Pinienächzen tanzen elanlos Reigen. Ich lasse mich nochmal von der Sonnenreflexion im Meer blenden. Heute ist noch nicht morgen.

Die Worte des Fischers sausen schon wieder in meinen Ohren. Er hat gewendet. Noch immer leicht Pünktchen sehend, stehe ich auf. Der Marmorboden ist warm. Ich lehne mich über die hüfthohe Kalkmauer meines Balkons. Sechs Meter tiefer wird der Fischer mit seinem Auto langsamer. Er winkt mir zu, lacht. Ich lache und winke zurück. Er weiß, dass ich seine Sprache nicht verstehe. Und ich weiß, dass er kein Englisch spricht. Aber er weiß von Nicos, meinem Vermieter, dass ich morgen die Insel verlasse. Zumindest entnehme ich seinen ausschweifenden Armbewegungen ein »Danke, dass du hier warst« und »Du musst wiederkommen«. 

Ich fasse mir auf die Brust, dort wo ich mein Herz schlagen fühle, und bedanke mich, dass ich hier sein durfte. Vielleicht habe ich ein Danke noch nie so herzlich gemeint. Wir lachen nochmal. Er reißt die linke Hand gen Himmel, ich nicke und kneiste in die Sonne. Dann lehnt er seinen Arm wieder aus dem Fenster. Bis zum Ellenbogen ist er gerötet. Ich schaue an mir herunter und erkenne: meiner auch.

[Paros, Herbst 2020]

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