[20. September 2021]
Heute ist der Tag, an dem ich mich von meinem crèmefarben Seidennachtkleid trenne. Erst bekam es Eigelbflecken, mit denen konnte ich noch leben. Dann rissen die Träger ein, zum Ei gesellten sich frisch gemähtes Gras, Rotwein, Erdbeermarmelade … Mittlerweile sieht es aus, als wäre Marie Antoinette darin gestorben – und zwar nicht ohne vorher ein letztes überbordendes Fest zu feiern.
In zwei Jahren habe ich geschafft, was dem Kleid ein Viertel Jahrhundert nicht antun konnte. Es ist aus den 90ern, schätze ich. Aus der Bridal Collection von Börner, die es längst nicht mehr gibt. Ob die Braut, die es mal trug, noch verheiratet ist? Glücklich? Oder steckt sie in einer miesen Scheidung, weil sie es mit dem besten Freund ihres Mannes hinterrücks getrieben hat? Immer wieder? Seit Jahren? Vielleicht hatte sie es auch nie an, dieses Negligé, weil sie in ihrer Hochzeitsnacht völlig betrunken eingeschlafen ist. Und geschnarcht hat. Ihr Ehemann liebt sie trotzdem.
Ich für meinen Teil habe so ziemlich jedes Versprechen gebrochen. Oder gehalten? Am Ende war ich einfach nicht nachsichtig genug mit dem seidenen Nachtkleid. Etwa als ich darin morgens mit der Kaffeetasse in der Hand in der kleinen Bucht auf Sardinien einen Felsen aufsuchte, um der Sonne beim Aufgehen zuzugucken, dabei aber völlig die Wellenhöhe ignorierte. Oder als ich darin während Berliner Hitzewellen auch bei Ventilatoren-Wind noch immer vor mich hin schwitzte. Die meisten Sonntage bin ich nach dem Aufstehen erst gar nicht rausgekommen aus dem Nachtkleid – egal ob am Frühstückstisch oder beim Späti (weil der Sekt fehlte). Einmal habe ich es zu einem Familien-Brunch ausgeführt, ein anderes Mal darin in einem Schlauchboot auf See gehofft, das Ventil richtig verschlossen zu haben.
Vielleicht wollte ich zu viel. Vielleicht kann es kein Nachtkleid geben, das mir alles gibt. Aber vielleicht hat es mir auch alles gegeben. Vielleicht sind kurze, wilde Momente nicht unbedingt schlechter als die Ehe für immer. Und vielleicht ist es auch nicht notwendig, einen Vertrag zu unterzeichnen, um offiziell zu machen, guten Sex und Liebe gefunden zu haben. Vielleicht brauche ich deswegen auch kein seidenes Negligé in der Nacht. Auf Frühstückseier am Sonntag und Rotwein im Bett kann ich zumindest nicht verzichten.