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Vom Sehen kennen

Blog

[28. Juli 2020]

Es gibt Tage, da setze ich meine Brille bis zum Mittag nicht auf. Die Dioptrien beträgt -3, ich sehe also nicht nichts. Es ist vielmehr eine angenehme Unklarheit. Ich sehe die Dinge grober, im Großen und Ganzen vielleicht? Auf jeden Fall deutlich weniger deutlich. Eier kann ich so kochen; auch wenn nicht immer genau sechs Minuten lang. Die Zeiger der Küchenuhr sind so weit weg zu klein. Dabei lege ich sehr viel Wert auf korrekt gekochte Eier. Aber ohne Brille verzeihe ich das schneller. Ohne Brille verzeihe ich der Welt generell viel mehr.

Ein Morgen ohne Brille ist wie irgendwo in der Provence: ein bisschen verlebt, aber mit viel Charme. Und irgendwo klebt auch noch Teig oder Farbe oder ein Kürbis verdorrt. Aber diesen Orten in der Provence verzeiht man das. Alles ist ein bisschen weniger ernst ohne Brille. Als wäre die Welt noch nicht vollends hochgefahren. Da ist Abstand.

Manchmal gucke ich vertieft aus dem Fenster; dabei kann ich noch nichtmal die abblätternde Farbe des Rahmens richtig erkennen. Aber ohne Brille aus dem Fenster zu schauen ist wie die ganze Welt zu sehen; als dicke Suppe, ganz ohne Nebel.

Ich schneide auch Körnerbrötchen, gieße die Petersilie im Fensterbrett und wasche manchmal Kaffeetassen ab. Ich brate auch kleine Bratwürste ohne Brille. Das fühlt sich frei an, mit Gojko Mitić am Horizont.

Wenn ich dann beschließe, ein vollwertiger Teil dieses Sonntags zu sein, und die Brille aufsetze, tut mir die Klarheit anfangs immer leicht weh in den Augen. Echte Indianer und ich kennen Schmerzen. Jetzt sehe ich schärfer, jetzt sehe ich alles: dass da noch Krümel auf dem Tisch liegen, obwohl ich abgewischt hatte und dass der von mir vermutete schwarze Hautkrebs nur ein breit gedrückter Mohnsamen auf meinem Nasenrücken ist.

[Berlin, Frühling 2020]

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