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Neidische Selbstreflexion

Blog

[9. Januar 2021]

Sie hat alles, was ich haben will. Noch schlimmer: Sie sieht nach dem Aufstehen so aus, wie ich versuche mich drei Stunden lang herzurichten. Sie ist so diszipliniert, dass es mir weh tut. Es tut weh, wenn ich mich vor dem Frühstück einfach nicht aufraffen kann, loszulaufen. Es tut weh, wenn ich zu viel Wein am Abend unter der Woche trinke, sodass es am nächsten Morgen erneut wehtut, wenn ich mich vor dem Frühstück einfach nicht aufraffen kann, loszulaufen … Sowieso hasse ich es zu laufen! Aber es ist gut für den Körper. Und auch für den Kopf. Ich weiß das. Aber anscheinend nicht so gut wie sie.

Am schlimmsten ist eigentlich, dass sie immer das Richtige zu sagen weiß. Oh, wie ich sie darum beneide. Im Gegensatz zu mir, die manchmal erst über Dinge nachdenkt, nachdem ich sie aus meinem Mund gehört habe. Das dann aber für Wochen. Besonders bei zu viel Wein am Abend und wenn ich nicht laufen war. Sie ist so toll, dass sie mich dafür noch nicht mal verurteilt. Herrgott nochmal, diese Frau!

Manchmal kommen wir uns ganz nah. Dann denke ich, hey, so verschieden sind wir gar nicht: selbes Alter, dieselben Augen, dasselbe asymmetrische Gesicht gleich bei der U1 diagnostiziert bekommen – sei grad noch so im Rahmen, meinte der Arzt damals. Und dann schaue ich auf die Uhr und es ist schon wieder Nachmittag und ich war noch immer nicht laufen und das Frühstück steht noch auf dem Tisch und jetzt ist es ja eh zu spät.

Dann blaffe ich sie an: Was willst du eigentlich von mir? Ich schmolle. Sie ist ganz verständnisvoll: Am Ende sei sie doch auch nicht perfekt. Und Scheitern gehöre zum Menschsein dazu; überhaupt sei immer noch der Weg … Ich drehe den Heißwasserhahn der Badewanne voll auf, hole ein Glas Nutella und gucke während des Löffelns zu, wie ihre Konturen unschärfer werden – bis die Wrasen sie im Spiegel ganz verschwinden lassen.

In der Badewanne liegend merke ich, dass sie ja viel lieber Vollbäder nimmt als ich. Mich entspannt der Gedanke nicht recht, im eigenen Sud zu liegen. Ich ziehe den Stöpsel. Die Dusche spuckt nur noch lauwarmes Wasser auf mich, weil der Boiler sich fürs Vollbad verausgabt hatte. Aber wenigstens fühle ich mich sauber. Und Nutella ist auch noch da.

Im Schlafzimmerspiegel sehen wir uns wieder: diesmal in voller Körpergröße. Wieder sehe ich in ihrer Struktur mein Chaos und in ihren Plänen meine spontanen Fehlversuche. Sie überzeugt mich, nach dem halben Nutellaglas doch noch die Zähne zu putzen, bevor ich ins Bett gehe. Ich verdrehe die vollen zweieinhalb Minuten lang die Augen.

Im Bett empfiehlt sie mir noch ein Buch, so käme ich auf andere Gedanken … Ich fange an zu lesen und andere Gedanken kommen. Und dann frag ich mich noch kurz, ob sie auf mich aufpasst oder ich auf sie – und schlafe ein.

Am nächsten Morgen wache ich vor dem nervigen Wecker auf, ziehe meine silbernen Croco-Velours-Sneaker an und laufe los. Noch vor dem Frühstück. Sie und ich glauben, gestern war ein guter Tag.

[Paros, Herbst 2020]

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