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Fremde beste Freunde

Blog

[15. Januar 2021]

Für mich ist sein Name Erich. Wie er wirklich heißt, weiß ich nicht. Wir sehen uns beim Sonnenbaden, auf dem Weg zum Supermarkt und im Restaurant bei herrlich geschmacksexplosiven Wein-Meerestier-Kombinationen. Er wohnt zwei Straßen weiter weg vom Strand als ich. Wenn er an meinem Balkon vorbeigeht, erinnert er mich daran, das Meer vor der Haustür nicht für selbstverständlich zu halten. Also packe ich meine Netzbeuteltasche mit Taucherbrille, Mikrofaserbadetuch und 1,5 Liter Wasser und folge Erich. Wir liegen dann oft am selben Strandende, nah an der felsigen Landzunge. Zwischen uns sonnen sich noch ein, zwei Einheimische. Von denen unterscheiden wir uns, weil wir minutenlang aufs Meer starren – als würden wir den Anblick und den Geruch konservieren können.

Ich glaube, Erich ist Franzose. Ob das stimmt, weiß ich auch nicht. Und Franzosen würden sich auch schwer tun, das deutsche »ch« in dem ihm von mir gegebenen Namen auszusprechen. Aber es fühlt sich sinnig an.

Unsere Blicke treffen sich manchmal, wir grüßen uns dann kopfnickend. Doch ich traue mich nicht, Erich anzusprechen, weil ich das Gefühl habe, den Moment verpasst zu haben. Irgendwann lief er einfach vor mir auf der Straße. Und ein merkwürdig vertrautes Gefühl kam in mir auf. Schon da empfand ich es als zu spät, ihn nach seinem Namen zu fragen. Als würden wir uns schon immer kennen und »Erich« mir einfach entfallen sein.

Ab und an sorge ich mich auch um Erich. Die Hitze kann älteren Menschen schnell zu schaffen machen. Und Erich ist bestimmt wenigstens 40 Jahre älter als ich. Wenn ich ihn einen Tag lang nicht sehe, frage ich mich, ob es ihm gut geht. Oder ob sein Kreislauf gerade eine Auszeit von den Sonnenstrahlen braucht. Wenn er dann am nächsten Tag auf dem Weg zum Supermarkt vor mir läuft, freue ich mich. Ich lächle hinter seinem Rücken. Und ich bin davon überzeugt, Erich lächelt vorn herum auch.

Unsere letzte Begegnung ist am Strand. Erich und ich sind die einzigen dort. Er hat wie üblich seine Strecke zurückgelegt: halb im Wasser, halb an Land zweieinhalb Mal den Strand abgelaufen. Doch diesmal schlägt er meine Richtung ein. Ich sehe ihm zu, wie er auf mich zukommt. Ich bin wohlig gelassen, kneiste ihm unter meiner Hand entgegen, die die Sonne versucht abzuschirmen. Doch auf halbem Weg biegt Erich ab, kehrt zurück zu seinem Handtuch. Er rollt es konzentriert zusammen und zieht sein Hawaiihemd über seine knielange Badehose. Er sieht mich an. Ich schaue zurück und lächle. Erich lächelt auch und geht.

Am nächsten Tag schaue ich vom Balkon aus, am Strand und auf dem Weg zum Supermarkt nach Erich. Auch im Restaurant suche ich seine Gestalt, dessen Finger durch sein kleines schwarzes Notizbuch blättern. Aber Erich ist nicht mehr auf der Insel. Kurz, aber heftig überrollt mich Melancholie. Als hätte ich einen guten Freund verloren. Zwei Wochen lang hält unsere Freundschaft. Und ganz ohne einander zu kennen, kann ich Erich nicht vergessen.

[Paros, Herbst 2020]

© 2021 Anne Tröst. Alle Rechte vorbehalten.