[27. Oktober 2020]
»Da muss Luft ran«, höre ich mich die von Uroma Ruth oft gebrauchten Worte nun selbst wiederholen. Sie hatte nie wirklich viel auf Pflaster gegeben. Irgendwie störten die ja auch: beim Abwasch von Marmeladenmessern und Schnapsgläsern, bei der Gartenarbeit. Da hatte sich dann am Endes des Tages immer mehr Dreck drunter gesammelt als das Pflaster abhalten sollte. Aber wenn ich mir mein linkes Knie jetzt nochmal genauer anschaue – so ganz ohne Frühschoppen und Kartoffelkäferabsammeln in Aussicht –, kann ich mich nicht gegen das Verlangen wehren, es zeitnah unter einem Wundschnellverband verschwinden zu lassen.
»Mensch Mädchen, wie hast du das denn schon wieder gemacht?«, fragt mich Uroma Ruth enttäuscht und aufgebracht in meiner Erinnerung. Ja wie habe ich das denn eigentlich schon wieder gemacht?
Über meine Beine zu stolpern ist so eine Art Talent von mir, für das ich bislang nie ausgezeichnet wurde und womit sich auch in Zukunft ganz sicher kein Geld verdienen lässt. Dabei hatte ich ein paar gute Jahre ohne Kniefälle. Aber man soll niemals nie sagen, auch das hat Uroma Ruth oft gesagt.
Mittlerweile hat das Stolpern und Fallen allerdings die altansässigen Sphären von Kindergartenspielplatz und Gymnasialtreppenaufgang verlassen. Ich stolpere und falle jetzt international: in Brooklyn Metro-Ausgänge hoch, in Berliner Verlagshäusern Eingangstüren nach Vorstellungsgesprächen hinaus und in Apulien 200 Jahre alte Bordsteinkanten hinunter. Eine, die auszog, um das Laufen zu lernen.
Und offensichtlich ist meine Reise noch nicht zu Ende. Denn hier stehe ich nun wieder mit blutendem Knie. Die Fallanalyse bringt wie üblich nicht viel: Ich war abgelenkt, in Eile, der Sisal-Treppenstufenbelag und meine delfinblaugrauen Blockabsatz-Pantoletten verstanden sich nicht; irgendwas davon oder alles zusammen.
Mir wird eilig aus dem Verbandskasten verschiedenes Angeboten: Mullbinde, Heftpflaster, Kompresse. Als ich die Erste-Hilfe-Schere sehe, dreht sich alles. Wann genau bin ich eigentlich zu alt geworden für Pflaster mit Dinos und Schildkröten? Inzwischen versuche ich, wie der Rest der Erwachsenen, Wunden intuitiv unter einem hautfarbenen Pflaster zu verstecken. Genauso wie ich nun inständig hoffe, dass keine Narben bleiben. Dafür gebe es jetzt auch Pflaster mit Gel und anderem Wundheilkram. »Alles, damit es auch ja wird wie vorher«, versichert mir die Apothekerin. Sie ist es auch, die Uroma Ruths Heilsversprechen außer Kraft setzt: Wunden verwachsen anscheinend gar nicht besser an der Luft, sondern indem sie feucht gehalten werden. Klingt eklig, denke ich mir. Ist es auch, stellt sich später heraus.
Und am Ende entscheide ich mich gegen das Pflaster. Ich will dem Schmerz nun doch ins weißblutkörperliche Epizentrum gucken. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin.
