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Das Peter-Pan-Syndrom

Abschlussarbeit »Gameboy«

Er hatte sich geschworen, niemals ein Mann zu werden – vermutlich das einzige, woran sich Peter Pan auch gehalten hat. Heute macht er Spielschulden, hat ein Alkoholproblem und möchte sich noch immer nicht berühren lassen; im Herzen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts feierte die Geschichte des Peter Pan seine Uraufführung. James Matthew Barrie kreierte die fiktive Insel Nimmerland und ließ den Protagonisten mit seinen Anhängern als Verlorene Jungs die ewige Kindheit genießen. Mehr als hundert Jahre später, während es Peter Pan zu unzähligen Neuverfilmungen schaffte, ist dieses Phänomen Realität geworden – ohne Lederschuhe und Holzschwert, aber mit Wendys, Tinkerbells und einer immer noch riesigen Abscheu gegen Verantwortung. Professor Dr. Borwin Bandelow hat Peter Pan bereits einige Male getroffen. Als Psychiater weiß er, wie dieser heute lebt, welches Verhältnis er zu Frauen hat und warum er gar nicht anders kann, als zu spielen.

Im Jahr 1904 war er ein Junge im grünen Zweiteiler, mit Feder am Hut und unförmigen Lederschuhen. Wie sieht Peter Pan heute aus?

Im Prinzip versteht man darunter noch immer eben genau das: ein Mann, der nicht erwachsen werden will; der sich zurück in die Kindheit schleicht. Michael Jackson war so ein Parade-Beispiel dafür. Das war natürlich eine sehr extreme Form. Was dahintersteckt, ist eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung, die sich bei ihm so äußerte, dass er mit seinem Leben nicht zufrieden war, Selbstmordgedanken hatte und auch ständig irgendwelche Drogen nahm. 

Und abgesehen von der Neverland-Ranch – wo treffen wir Peter Pan noch?

Überall. Ich habe häufig Patienten, die im Alter von 42 noch immer solche Hänger sind; die den ganzen Tag lang nichts machen und irgendwelche Glücksspiele betreiben. Die leihen sich dann DVDs aus und gucken irgendwelche Filme. Die machen eben nur das, was ihnen Spaß macht – wie Kinder. Kinder dürfen das ja, aber von Erwachsenen erwartet man, dass sie ihr Geld verdienen. Viele Männer haben diesen Peter Pan in sich, auch wenn sie psychisch nicht so auffällig sind oder direkt darunter leiden.

Aber er hat doch ein traumhaftes Leben: keine Verantwortung, unendliches Vergnügen! Wieso sollte er darunter leiden?

In erster Linie leidet auch nicht unmittelbar Peter Pan darunter. Sondern meistens sind es die Ehefrauen, die das nicht so lustig finden, wenn sich der Mann zu ausgiebig mit irgendwelchen Spielereien beschäftigt. Was erst einmal überhaupt nichts Störendes ist. Aber es gibt eben auch Menschen, bei denen das Spielen Überhand nimmt. Sodass sie dann beispielsweise so viel Zeit mit dem Computer verbringen, nicht mehr zu ihrer eigentlichen Arbeit gehen oder sogar bereits deswegen arbeitslos sind. Es gibt unglaublich viele Leute, die von Computer-Spielen abhängig sind – auch 38-Jährige. Das ist ebenfalls ein Ausdruck dafür, nicht alt werden zu wollen. 

Und warum spielt Peter Pan so schrecklich gern?

Das liegt am Belohnungssystem: Wenn wir etwas Schönes machen, wird im Gehirn Dopamin ausgeschüttet. Auch etliche Drogen wie Nikotin, Alkohol oder Opioide reizen diesen Teil des Gehirns. So wie Sex. Man könnte sagen: Immer, wenn irgendjemand etwas macht, was unanständig oder peinlich oder teuer oder gefährlich ist, dann hängt das mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Belohnungssystem zusammen.

Aber wir empfinden doch alle gerne Freude!

Natürlich. Aber bei nicht-gestörten Persönlichkeiten sorgen Angst- und Vernunftsystem für den nötigen Ausgleich. Denn das Belohnungssystem allein ist wirklich so drauf, dass es immer die sofortige Befriedigung der Grundbedürfnisse des Einzelnen anstrebt. Wenn diese Systeme entgleiten, ist das sozial eher unverträglich, es wird teuer – oder man wird schwanger.

Und was ist dann die Folge von übermäßiger Glücks-Sucht?

Das Belohnungssystem hängt mit dem Endorphin-System zusammen. Oft auch Opiat-System genannt, weil bei Opium- oder auch Heroin-Konsum dieselben Rezeptoren im Gehirn angesprochen werden. Diese Wohlfühl-Hormone, die ich normaler Weise durch Essen, Sex oder sonstige Gelüste kriege, bekomme ich also auch ohne Sex und ohne Essen – indem ich mir einfach Heroin spritze. Das ist der Grund, warum sehr viele Leute, die eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung haben, Drogen nehmen und sich damit betäuben wollen. 

Also ist Peter Pan ein Junky?

Ob jetzt Computer-Spiele, Poker-Sucht oder Alkohol: Die Betroffenen wollen mehr Endorphine ausschütten. Das Belohnungssystem ist nur auf das Ziel fixiert, das nimmt den Unterschied zwischen den Wegen dorthin gar nicht wahr. Es verlangt nach immer größeren Mengen von Endorphinen, sodass die Betroffenen eben viel mehr als andere Menschen versuchen, diesen Drang zu befriedigen. Das führt dann dazu, dass sie es auf mehrere Bereiche gleichzeitig ausdehnen. Die haben dann nicht nur das Problem, beispielsweise spielsüchtig zu sein, sondern greifen eben oft auch häufiger zu Drogen. Auch das Sexualverhalten richtet sich danach. Sie gehen mit so ziemlich jeder ins Bett, die nicht bei drei auf den Bäumen ist. Sie versuchen also, über drei oder mehr Kanäle das Belohnungszentrum anzuheizen – aus Mangel und aus Verzweiflung.

Der Peter Pan von heute spielt also gern World Of War Craft, geht leidenschaftlich Pokern und hat vielleicht ein kleines Selbstfindungsproblem. Wo genau ist da der Unterschied zwischen einer Midlife-Crisis und dem tatsächlichen Syndrom?

Also das Peter-Pan-Syndrom und eine Midlife-Crisis haben wenig miteinander zu tun. Bei einer Midlife-Crisis denken die Männer entweder: Jetzt bin ich mit dieser Frau sieben Jahre zusammen und nun wird sie mir langweilig und ich würd gern eine andere haben, aber ich krieg keine mehr ab, weil ich schon zu alt bin. Oder: Im Job geht’s nicht voran und ich bin jetzt auch schon zu alt, um noch etwas anderes zu machen. Das nennt man eigentlich Midlife-Crisis. Weil man beobachtet hat, dass Leute in diesem mittleren Lebensalter unzufriedener sind als Leute, die 65 sind. Denn die Zufriedenheit steigt nach dem 60. Lebensjahr wieder an. Das Peter-Pan-Syndrom aber umfasst Männer, die dieses Kind im Mann haben – nur sehr extrem eben. So sehr, dass sogar die Arbeit oder die Familie darunter leidet.

Und wer trägt die Verantwortung für sein Leiden?

Meines Erachtens ist das aufzuteilen. Die eine Hälfte ist genetisch, das heißt also, Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung haben häufig Eltern, die das auch schon hatten. Die andere Hälfte sind Umwelteinflüsse. Wobei das natürlich Hand in Hand geht: Wenn der Vater durch den Vererbungsfaktor eben auch so eine ähnliche Störung hat, dann hat er dem Sohn auch so einiges vorgemacht. 

Wie gefährdet ist dieser „Junge“ außerhalb des Nimmerlands?

Im Fall der Spiel- oder Internetsucht kann das wirklich richtig gefährlich werden. Die Leute verlieren massiv Geld und werden dann auch schnell mal straffällig. Klar: Sie wollen sich das Geld dann anders besorgen, indem sie klauen oder betrügen. Manchmal werden sie auch suizidal, weil sie dann plötzlich mit 60.000 € Schulden dastehen und keinen Job haben, weil sie dort rausgeflogen sind, da sie dort ja schon 15.000 € unterschlagen haben. Und das ist dann die tatsächlich krankhafte Form davon. Sodass die Betroffenen in Kliniken eingeliefert werden müssen. Es ist im Endeffekt erstaunlich, wie das ein Leben kaputt machen kann.

In der Geschichte ist Peter Pan eher beziehungsunfähig – er ist egozentrisch und hat tiefgreifende Berührungsängste. Und trotzdem verlieben sich alle weiblichen Protagonistinnen in ihn. Warum?

Das ist tatsächlich so. Denn es läuft wie folgt: Ich suche mir einen Partner, der mein Belohnungssystem beglückt. Im Gehirn gibt es diese drei Systeme, die gegeneinander arbeiten: das Belohnungssystem, das Angstsystem und dann haben wir darüber noch das Vernunftsystem – was aber der schwächste Teil ist. Peter Pan ist ein Kandidat, der auf den ersten Blick große Abenteuer verspricht und Langweile so ziemlich ausschließen lässt. Wenn er dazu vielleicht noch ein bisschen zu viel Macho ist, dann denkt zwar das Vernunftsystem: Lass die Finger von dem Kerl, der bescheißt mich doch an jeder Ecke! Aber das Belohnungssystem, das ist ziemlich primitiv und denkt nur unterhalb der Gürtellinie, sagt: Das ist aber der, der mir zwanzig Kinder macht! Und dann muss sich die Frau entscheiden.

Gibt es denn einen weiblichen Charakter, der besonders auf Peter Pan anspringt – oder siegt bei allen Frauen das Belohnungssystem, wenn sie auf einen derartigen Narzissten treffen?

Also es gibt schon bestimmte Frauen, die genau auf diese Sorte Mann stehen. Häufig sind es die, die ähnliche psychische Probleme haben. Es gibt Frauen, die sind völlig zwanghaft, die müssen alles super ordentlich machen und leben sehr pflichtbewusst. Die fahren dann eher nicht auf solche Männer ab. Auf der anderen Seite gibt es Frauen, die nicht immer alle Regeln einhalten und eher unkonventionell sind, dafür aber viel Fantasie haben und häufig sehr emotional gesteuert sind. Das sind dann auch die, die sich in Peter Pan verlieben. 

James Matthew Barrie verpackte diese zwei Sorten von Frauen in die Figuren Wendy und Tinkerbell. Auf der einen Seite das Mädchen, das von Peter Pan aus der realen Welt geholt wird, um im Nimmerland Spaß zu haben. Auf der anderen Seite die kleine Fee, die ursprünglich nichts anderes als ein energischer Lichtball war – eifersüchtig, emotional und impulsiv …

Die Tinkerbells sind natürlich die, die selber auch sehr viel Aufmerksamkeit brauchen. Da Peter Pan die jedoch am liebsten ständig selbst kriegen will, findet dort immer ein Interessen-Konflikt statt. Während die Wendys so einen Typen total klasse finden können, weil er in jeder Beziehung das komplette Gegenteil von ihnen ist. Die wollen irgendeinen, der sie zu irgendwelchen Sachen antreibt, die aufregend oder verboten sind. Die würden nie allein auf den Gedanken kommen, Dinge zu tun, die unanständig sind, aber wenn da einer kommt, der sie dazu verleitet, wäre das okay. Aber auf die Dauer ist eigentlich beides Mist. Die Wendys werden für Peter Pan irgendwann langweilig, weil sie zu vorhersehbar und berechnend sind. Aber mit den Tinkerbells läuft’s auch nicht gut, weil die sich quasi ständig um die Aufmerksamkeit streiten; vor allem, wenn zwei Leute ständig irgendwelche höchst verfänglichen Dinge tun.

Dann muss sich Peter Pan also ändern, um ein „normales“ Leben führen zu können?

Erst einmal ist es schwierig, Persönlichkeiten überhaupt zu ändern. Man sagt, dass mit 16 Jahren die Persönlichkeitsformung abgeschlossen ist. Von da an kristallisiert sich alles nur noch stärker heraus. Also ist die Modifizierbarkeit von solchen Leuten sowieso sehr gering. Vor allem, weil sie sich dabei nicht immer zwingend schlecht fühlen. Es gibt zwar manchmal Stress, weil vielleicht die derzeitige Geliebte herausgefunden hat, dass er etwas mit einer anderen hat. Aber auf der anderen Seite hat er eben diesen Gewinn von einer weiteren Frau. Und da fragt er sich natürlich: Warum soll ich mich denn ändern? Wo kein Leid ist, gibt es auch keine Psychotherapie. Man kann also Leute, die nicht selbst einsehen, dass da irgendetwas schief läuft, nur noch erschwerter modifizieren. 

Demnach hat er es selbst in der Hand.

Die Modifizierbarkeit ist selbst dann schwierig, wenn er sein Problem erkennt. Es gibt viele Menschen mit Störungen, gerade die Narzissten, die sich ihr ganzes Leben lang nicht ändern, weil sie zu viele positive Erfahrungen gemacht haben. 

Kann er denn dann überhaupt jemals geheilt werden?

Nein, definitiv nicht. Die Persönlichkeit ist etwas, was immer bleibt und was man nicht so einfach heilen kann. Es wird mit der Zeit aber weniger auffällig. Viele Persönlichkeitsstörungen werden besser, wenn man älter wird. Mit 27 Jahren ist bekanntlich der Peek, wo diese Störungen am schlimmsten sind.

Also gehört Peter Pan neben Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Brian Jones und Jim Morrison auch zum Club 27?

Sozusagen; denn das ist der Höhepunkt dieser Persönlichkeitsstörungen. Das liegt daran, dass diese Krankheit mit 13, 14 Jahren anfängt und bis zum 27. Lebensjahr immer schlimmer wird. Wer das überlebt hat – rein statistisch gesehen – kann irgendwann wieder gesund werden. Schauen Sie sich Keith Richards an, den kann man ja als normal bezeichnen – mehr oder weniger. Der lebt jetzt ganz glücklich und zufrieden und muss sich nicht mehr ständig mit irgendwelchen Drogen betäuben. 

Und was machen nun all die Wendys und Tinkerbells, die einem Peter Pan verfallen sind?

Entweder sollten sie es von Anfang an lassen, weil es mit großer Sicherheit sehr, sehr anstrengend wird. Oder zehn Jahre warten – dann gibt sich das von allein.

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