[27. Oktober 2021]
Warum war »früher« eigentlich tatsächlich alles besser? Der letzte Sommer kommt mir immer wärmer vor, der Winter war im Frühling gar nicht mehr so schlimm, irgendwie bot mir mein Kleiderschrank letztes Jahr um dieselbe Zeit mehr Auswahl und das pinke Viskosekleid spannte auch nicht so am Hintern. Und hatte ich nicht den perfekten Blondton früher, also im vergangenen Herbst?
Fehler im neuronalen Verarbeitungsprozess sollen das sein, irgendwo im sequenziellen Langzeitgedächtnis, das bei meinen 31 Jahren Sendezeit umfangreicher ausfällt als die in der Seriengeschichte längste, weil 709 Episoden lange Playlist von »The Simpsons«. Dabei hat mein Gehirn schon eine Datenträgerbereinigung vorgenommen und alle Erinnerungen vor meinem dritten Lebensjahr entrümpelt – praktisch, weil der aktuelle Stand der Psychologie ist, dass die Erinnerungen bis dahin eh nicht verlässlich sind. Und trotzdem scheint mein episodisches Gedächtnis oft genug unter dieser Fehleranfälligkeit zu leiden: Alles Vergangene wirkt mit seiner Vollendung sofort schöner als je zuvor.
Wie der üppige Art-déco-Ohrring, der mir vor acht Jahren in Paris 116 Stufen Metro-Treppe hinunterfiel – natürlich durch die Geländerrippen rutschend, fertig für den freien Fall; und Aufprall. Bevor ich zum allerersten Mal Austern und Champagner hatte. Ich trug ihn davor nur selten, da mein linkes Ohrläppchen dem Clip nie jenen Halt geben konnte, den er in meinem Leben brauchte. Doch für Paris kam mir mit funkelnden Steinen besetzte Opulenz gerade richtig vor. Und das Risiko des Verlierens vernachlässigbar. Das kam erst wieder auf, als ich verzweifelt daran scheiterte, die Einzelteile zwischen Kippen und Kaugummis auf dem dunklen Métro-Bahnsteig wiederzufinden. Danach spülte ich meine Trauer mit sprudelnden Prozenten runter.
Alles, was mir blieb, war die Erinnerung an dieses schillernde Schmuckstück – und mit fortschreitender Entfernung, zeitlich wie örtlich, fühlte ich mich von seiner Perfektion nahezu geblendet. War er nicht der schönste Ohrring aller Zeiten gewesen?
Ich behielt seine rechte Hälfte noch lange in meinem Nachtschrank. Doch auch die trug ich nie. Jetzt griff nicht mehr nur das Argument, dass er nicht fest genug saß, sondern auch, dass ich nicht der Typ für einohrige Hänge-Deko bin. Ich hielt ihn oft in der Hand, viel öfter, als er je an mir hing, und erinnerte mich an die schönen Stunden – bestens ausgeleuchtet vom neuronalen Halo-Effekt.
Bis ich ihn irgendwann vergaß, weil die Realität neue Erinnerungen schuf: auch neue Clips, die sich sanft, aber bestimmt an meine Ohrläppchen schmiegten und deswegen so oft ausgeführt wurden, dass das Metall irgendwann ganz abgegriffen war.
Vor einem Jahr trennte ich mich von dem übriggebliebenen Art-déco-Ohrring. Es fiel mir leicht, was mich kurz verwunderte. Aber: Nach Jahren verlorenen Schmucks und analysierter Vergangenheit glaube ich nicht mehr, dass man erst merkt, was man hat, nachdem man es verliert. Ganz im Gegenteil: Dinge, die mich glücklich machen – sei es Liebe, Freundschaft oder der Ring meiner Uroma Ruth –, schätze ich immer, wenn sie mir begegnen.
Und wenn es um unsere Erinnerungen geht, sind wir vielleicht wählerischer als beim Tinder-Superlike: Wir sieben kategorisch aus. Und zwar zu unserem Besten. Darum scheint die Vergangenheit manchmal perfekter, als es die Zukunft je sein kann. Aber wird sie damit nicht auch zum Ansporn? Neues auszuprobieren, Dinge zu wagen, Vintage-Teile zu finden, die so unglaublich gut zu den Art-déco-Ohrringen gepasst hätten – in der Hoffnung, die schönste Erinnerung zu schaffen, die wir je haben werden.

