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Von schlaflosen Nächten und zerrissener Seide

Blog

[6. Juni 2022]

Wenn ich abends im Bett liege, nachdem ich mich versichert habe, dass alles Wegzuhängende weggehängt ist, alles Gesagte gesagt und alles Geschriebene geschrieben ist, dann könnte ich eigentlich ziemlich beruhigt einschlafen. Kann ich aber nicht. Ich bin plötzlich hellwach, obwohl ich todmüde bin. In meinem Kopf kreisen unausgegorene Gedankenansätze, einsilbige Wortfetzen und Satzanfänge, die kein Ende finden wollen.

Einfach an nichts denken – wer das schon mal von sich selbst verlangt hat, weiß, wie unmöglich das ist. Also schmeiße ich mich von einer Seite auf die andere, trotzig und erschöpft zugleich, fast wie in der letzten Nacht der Sommerferien. Dabei ist morgen ein Tag wie heute.

Ein warmes Glas Milch mit Honig soll helfen; oder eine halbe Flasche Rotwein. Aber um aufzustehen, bin ich zu schläfrig. Nur nicht zum Denken. Also versuche ich es mit den schönen Dingen: Ich gehe meinen Kleiderschrank im Kopf durch – fühle gedanklich den butterweichen gelben Lederrock, die Seidenorganza-Bluse … Wollte ich die nicht längst zum Kunststopfen eingeschickt haben?

Es passierte am Silvesterabend. Zumindest deutet alles daraufhin. Denn mitbekommen habe ich es erst am Neujahrstag: als ich mit Kopfschmerzen aufwachte und mich die Unsicherheit über Blöd-Gesagtes durchzuckte, die emotionalen Nachwehen einer durchzechten Nacht eben. Mein zweiter Gedanke: die Seidenorganza-Bluse! Unter starkem Schwindel taumelte ich dorthin, wo ich vermutete, mich ihr in der vorherigen Nacht entledigt zu haben. Auf den ersten Blick sah sie ganz gut aus. Auf den zweiten nicht.

Zwei Rotweinflecken zierten das von vierzig Jahren leicht vergilbte Weiß. Ein bisschen wie Gorbatschows Feuermal. So markant, wie konnte ich ihn damals in der Karikatur bei der mündlichen Geschichts-Leistungskontrolle eigentlich nicht erkannt haben?

Aber zum Abend: Ich hatte Rotwein getrunken? Hatte ich da etwa auch nicht schlafen können? Oder vielleicht am Lagerfeuer … Dann erstaunte mich allerdings viel mehr, dass sie dort nicht einfach in Flammen aufgegangen war, die Bluse. So wie die letzten zwei Jahre zum Beispiel. Aber Seide ist schwerer entzündlich. Sie ist außerdem gar nicht so empfindsam, was Fleckenbehandlungen anbelangt.

Übriggeblieben von der Silvesternacht sind also die Risse. Die Risse in der Seidenorganza-Bluse, die mir noch mehr Rätsel aufgeben als die Rotweinflecken – und die schon längst kunstgestopft sein könnten.

Draußen wird der tiefschwarze Himmel langsam mittelblau. Ich rolle mit den Augen, genervt davon, dass er sich nicht noch ein bisschen Zeit lassen kann. Genervt davon, dass ich in Geschichte nie gut war, weil ich dachte: Wir lernen ja eh nicht draus. Genervt davon, dass ich meine Seidenorganza-Bluse an Silvester zerrissen habe. Immer noch wach, aber müde, nur mit weniger Stunden bis zum Weckerklingeln übrig, greife ich zur Schlafmaske. Dunkelheit muss her. Fake it till you make it! Oder: Augen zu und durch.

[Berlin, Winter 2021/22]

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