[25. November 2022]
Dass ich Modegeschichte in den Händen hielt, als ich das Kleid aus dem Seidenpapier befreite, wusste ich erst später. Zunächst war ich völlig hin und weg von der Leichtigkeit des Wollstoffes, vom perfekt gefalteten Plissee, vom bordeauxrot-grünen Tartanmuster und dem senffarbenen Quastenprint, der sich darüber hinwegschlängelte.
Mich faszinierte die Extravaganz der Knöpfe, die es so eben nur bei Vintage-Teilen zu finden gibt: diese Liebe zum Detail, hochwertig schwer. Und auch wenn ich sie niemals ohne Anziehhilfe würde schließen können, machten sie dieses 80er-Midikleid sofort zu einem der besondersten Teile in meinem Kleiderschrank. Die ausladenden Schulterpolster waren da nur das i-Tüpfelchen. Und spätestens als ich das Label in geschwungenem Handschrift-Font im Etikett entdeckte, musste ich wissen, wer »Adele Simpson« eigentlich war.
Ich las, dass sie zwar von kleiner Körperhöhe gewesen sein soll (angeblich musste sie auf Seifenkisten steigen, um auf ihren Modenschauen gesehen zu werden), aber eine enorme Größe in der Mode. Denn die Entwürfe der amerikanischen Designerin wurden nicht nur mit Preisen ausgezeichnet, als sie noch lebte. Sie gehören mittlerweile unter anderem auch zum Bestand des Kostüminstituts des Metropolitan Museum of Art – seit 2014 besser bekannt als »Anna Wintour Costume Center«.
Simpson kleidete drei First Ladys (von mal mehr, mal weniger beliebten Präsidenten) ein und ließ ihre Kampagnen von Lichtgenie Horst P. Horst fotografieren. Sie gab französischer Haute-Couture einen amerikanisch-alltagstauglichen Twist und verarbeitete als eine der Ersten Baumwolle für Abendgarderobe. Generell wurde sie für ihren neuen Zugang zu Stoffen gefeiert. Inspiration dafür holte sie sich auf Reisen.
Ich nahm mein Adele-Simpson-Kleid auch mit auf Reisen: nach Wrocław. Dort stieg ich zwar nicht auf Seifenkisten, aber ich ging mit ihm ins Museum. Ich fand, das war nur angemessen.