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Ein tragfähiger Kompromiss

Blog

[02. Mai 2024]

Mary Janes wurden schon vor 100 Jahren getragen. Ich hab sie erst jetzt für mich entdeckt. Was zum einen bedeutet, dass ich Trends doch nicht ignorieren kann. Und zum anderen, dass ein Kompromiss in bordeauxfarbenem Leder mit Lyralochung und Broguing so gar nicht wie ein Kompromiss aussehen muss.

Denn eigentlich war ich eingefleischter Fan von Pumps, die viel Platz für einen nackten Spann lassen. Die Ristspange der Mary Janes empfand ich deswegen optisch immer störend – für mich ging dadurch der Effekt des verlängerten Beins verloren. Und bei nur 1,58 Metern Körpergröße war ich froh um jeden Zentimeter, den ich vortäuschen konnte! Aber nun zieht mein Komplex den Kürzeren.

Meine Füße haben sich nämlich verändert, allerdings unerklärlich antizyklisch. In der Regel wird im Alter ja alles größer, schlaffer und weiter: Nasen, Ohrläppchen und Bauchnabelpiercinglöcher etwa. Nicht meine Füße, die werden schmaler. So schmal, dass ich in klassischen Pumps keinen Halt mehr finde.
Der Kompromiss also: Mary Janes – eine Schuhform, die 1902 für eine gleichnamige Figur im Comic „Buster Brown“ von Richard Felton Outcault entworfen wurde. Mary Jane ist Busters Freundin. Ihr Outfit besteht oft aus einem blauen Rüschenkleid, einer großen Schleife im Haar und schwarzen Schuhen mit einer Spange über dem Spann – garantiert rausschlupfsicher. Und eigentlich trägt Buster dieselben Schuhe. Aber als sich die Brown Shoe Company eine begehrte Lizenz der Figuren erkauft hatte, vermarktete sie den Schuh unter dem Namen von Busters Freundin.

Seitdem werden die Spangenschuhe regelmäßig zum Trend erkoren: ob von Mao, Twiggy – oder Sézane, deren Modelle seit etwa einem Jahr meinen Instagram-Feed füllen. Vermutlich aber weniger aus fußanatomischer Notwendigkeit. Trotzdem hilft mir die modische Sehgewohnheit über die verlorenen Zentimeter der Täuschung hinwegzuschauen. Mary Janes in Streetstyle-Looks und Get-ready-with-me-Reels lassen mich vergessen, dass sie in meinem Schrank aus einem anderen Grund stehen: weil per Definition „eine vernünftige Art erreicht wurde, ein widersprüchliches Interesse auszugleichen“ – ein Kompromiss eben. Doch erst mal für en vogue erklärt, ist selbst der tragfähig.

[Berlin, Winter 2023/24]

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