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Dekadenreminiszenz

Blog

[11. Dezember 2020]

An einem guten Escada-Vintage-Teil komme ich nicht vorbei. Margaretha Ley war ihrer Zeit entweder bahnbrechend voraus oder furchtbar hinterher – ihre Designs kommen mir einfach immer gerade richtig vor, damals wie heute.

So teilen sich Kostüme, Blazer und Blusen von ihr meine Garderobenstange, deren Geschichten ich mir gern bei ein, zwei, drei Martinis erzählen lassen würde. Sicher müsste ich dabei auch rauchen, immerhin waren das die 80er. Aber das würde ich auf mich nehmen, um zu erfahren, auf welchen wilden Partys diese bunten Stoffe mit ihren kantigen Schnitten und festen Schulterpolstern gewesen sind.

Wem sie den Kopf verdreht, weil dreimal geküsst und die Nacht dann doch allein verbracht haben. Wie sie in Koffern von verletzten Liebenden aus Wohnungen getragen wurden oder vor den neuen Liebschaften der ehemals Geliebten ihrer Trägerinnen standen und all den Schmerz so spielend leicht vertuschten. Wie sie eine gute Figur machten, während man sich des Baby-Bauches vielleicht noch gar nicht so sicher war. Oder wie sie die Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Beförderung selbstsicher wegstöckelten.

Mein letzter Escada-Fund war ein cremeweißer Overall aus Schurwolle mit Steghose in hoch taillierter Passform, goldenen Knöpfen und Jersey-Stehkragen: In ihm stolperte ich am 31. Dezember um Punkt Mitternacht Moskauer Zeit auf die opulenteste Party meines Lebens und fuhr danach mit der Transsibirischen Eisenbahn durch schneebedeckte Weiten. Ich lernte in ihm, auf Russisch Pfefferminztee und grüne Macarons zu bestellen und dass man in Moskauer Taxis und Metros besser nichts auf Deutsch sagt, das man nicht auch verstanden wissen will.

Ich verbrachte in ihm Tage ohne Handyempfang und Akkuleistung, dafür mit sowjetischem Briefpapier und einem Bleistift. Er hing in verlebten Hotelzimmern, denen es noch nie wirklich besser ging, und wurde von der Wäscherin in Stalins Lieblingshotel unter Kronleuchtern und goldenem Stuck behutsam gefaltet. Er trotzte dem Matsch auf dem Roten Platz und hielt mich warm, als ich auf einem Bahngleis auf einen nächsten Zug hoffte.

In ihm holte man für mich den guten Champanskoje unterm Ladentisch hervor und – als ich zu viel davon hatte – stützte ich mich mit furchtbarem Schwindel gegen Lenins Kopf, verlor meine Pelzstola in der Nacht bei schlechter Musik und fand sie am nächsten Morgen wieder. Ich frühstückte Quarkpfannkuchen und Krautsalat in ihm und entdeckte Oolong-Tee für mich. Und auf der Rückreise erstaunte er mich noch einmal mehr: kein Fleck, keine gerissene Naht, kein verlorener Knopf – als hätte Margaretha Ley ihn für nichts Geringeres entworfen.

Manchmal schleiche ich mich in meinen Kleiderschrank und bilde mir ein, sie tuscheln zu hören, die Teile vergangener Tage. Und vielleicht flüstert mein cremeweißer Escada-Schurwoll-Anzug dann ja, dass ich mithalten kann mit all den aufregenden Geschichten der Escada-Frauen von früher und dass diese Russlandreise ein echtes Jahrhundertfest war.

[Berlin, Winter 2020/21]

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