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Spannung

Blog

[17. Oktober 2020]

Steckdosen waren mir noch nie geheuer. Ich würde nicht so weit gehen, es als Angst zu bezeichnen. Aber wenn ich Ladekabel, Föhne oder Smoothie-Maker mit Strom versorgen muss, empfinde ich Unbehagen.

Ich versuche dann, die Physikunterrichtsstunden Revue passieren zu lassen, in denen man sich Mühe gab, mir zu erklären, wie genau Strom eigentlich aus der Steckdose ins Gerät kommt. Und warum manche Materialien dafür besser geeignet sind als andere. Aber dass in den vergangenen Jahren – die Physikunterrichtsstunden sind deutlich länger her – auch elektrisch leitfähige Polymere auf den Markt gekommen sind, bringt die Grundsätze der von mir irgendwann mal fast verstandenen Physik durcheinander. Noch nicht mal mit Plastik ist man mehr sicher.

Bevor ich die beiden chromfarbenen Stifte des Steckers in die Löcher zwänge, bin ich also unweigerlich darauf eingestellt, gleich höchst unfreiwillig Teil des Stromkreises zu sein. Es ist aber auch der einzige Moment, in dem ich meiner chronisch trockenen Haut etwas Positives abgewinnen kann: Die bietet nämlich größeren Widerstand. Dass ich in der Regel Lederschuhe trage, gleicht das Ganze jedoch zu meinen Ungunsten aus.

Wenn sich dann beim Kontakt noch ein Lichtbogen bildet, schießt mir durch den Kopf, dass Frauen und Kinder besonders leitfähige Widerstände sind – und ich bin nicht sehr groß, vielleicht habe ich also die schlechtesten Karten von beiden. Aber der Stecker ist dann meistens schon drin. Und ich realisiere, dass ich es überlebt habe. Ein kleines Glücksgefühl durchströmt mich, ich bin gleich lebensfroher.

[Berlin, Winter 2019/20]

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