Ineke Hans weiß, was sie von Design verlangen kann. Für die 52-jährige Holländerin müssen Produkte das Leben beeinflussen. Und nichts ist zu Ende gedacht, wenn es nicht kommuniziert. Das ist seit mehr als zwei Jahrzehnten Hans’ kreativer Treibstoff. Auf der Ambiente 2019 trafen wir Sie, um mit ihr über die Zukunft von Design zu sprechen. Denn im nächsten Jahr wird Hans auf der Messe einen eigenen Designerrundgang führen – wir wollten wissen: Wohin geht das Handwerk? Doch statt Trend Forecasting zu betreiben, stellt die Designerin philosophische Fragen, auf die die Branche Antworten finden muss.
Frau Hans, Sie betonen oft, dass Ihnen ein sozialer Anspruch an Designprodukte besonders wichtig ist.
Ineke Hans: Gutes Design kann ja auch gar nicht antisozial sein. Es muss sich am Ende des Tages Menschen stellen. Einem Designer darf es nicht nur darum gehen, neue Dinge zu erschaffen. Wir müssen uns fragen: Was brauchen wir wirklich? Was hilft uns weiter? Damit wir nicht nur an dem weiterarbeiten, was es eh schon seit Jahren gibt.
Ist das ein Gedanke, der mit der beruflichen Erfahrung kam?
Eher mit den Anforderungen. Es gab auch eine lange Zeit, in der sich Design vor allem mit hübschen Dingen beschäftigt hat. Die mussten vorrangig schön und sauber gemacht sein. Doch nur hübsch zu sein ist nicht mehr genug. Wir haben schon Dinge, die hübsch sind. Und das ist auch prima. Die braucht man für den Kopf, für den Geist.
Sie haben mal gesagt, dass man nicht mehr von holländischem Design sprechen kann. Was meinten Sie damit?
Heute sind wir alle online. Wir lesen alle die gleichen Design-Magazine. Wir lassen uns von denselben Dingen inspirieren.
Bedauern Sie das?
Ich bedauere das überhaupt nicht. Das heißt ja nicht, dass sich Design nicht trotzdem verändert. Konzeptionell zu arbeiten beispielsweise ist prima. Doch die Sinnhaftigkeit und der Einfluss eines Produkts werden seit einigen Jahren immer wichtiger. Das erkennen nicht nur holländische, sondern auch junge deutsche Designer. Bei den German Design Awards sah man jedoch nicht viele Produkte, die von jungen niederländischen Designern oder beispielsweise meinen deutschen Studenten kommen würden.
Welche blieben Ihnen besonders in Erinnerung?
Da gab es so einen Zylinder aus Aluminium. Es war ein schwarzer Feuerlöscher für die Küche. Mit den Buchstaben der Marke drauf hätte es auch ein Behälter für Kaffeepads sein können. Woher weiß ich, wofür das Objekt sein soll? Die Dinge müssen kommunizieren. Da war der Anspruch eben ein klares Design zu kreieren. Das war immerhin gelungen. Aber was ist eigentlich falsch an einem roten Feuerlöscher, bei dem man im Fall eines Brandes eben nicht erst herausfinden muss, wofür er da ist und wie er funktioniert? Andererseits haben mich auch Produkte beeindruckt. Ein Gerät zum Durchtrennen der Nabelschnur zum Beispiel. Normalerweise benötigt man dafür fünf verschiedene Werkzeuge. Das neue Produkt ist ganz klein und hat trotzdem einen so starken Einfluss im medizinischen Bereich. Wenn man da zum Beispiel an Afrika denkt. Sowas ist wichtig. Da hätten wir dann auch wieder die soziale Komponente, die ich so gern betone. Dadurch ist es eben mehr als nur ein schöner Aluminium-Zylinder.
Wie hat sich Design bislang verändert?
Wir haben zum Beispiel immer kleinere Wohnungen. Stauräume muss man jetzt ganz anders denken. Und auch Möbel müssen anders genutzt werden. Meine Großmutter hatte noch einen Küchentisch, einen Esstisch und einen Schreibtisch. Aber ich esse jetzt am selben Tisch, an dem ich mein Frühstück gemacht habe und klappe danach den Laptop auf und arbeite daran.
So was inspiriert Sie?
Der Alltag inspiriert mich. Und auch mal die weniger schönen Dinge. Wie wenn wir allein vor dem Fernseher essen und dabei nicht besonders grazil sitzen. Das ist menschlich. Auch dafür brauchen wir entsprechende Produkte. Wie die Schüssel, die ich vor 14 Jahren für Royal VKB entworfen habe. Bei der ist der Löffel im Griff integriert. Die Schüssel kann man mit dem Löffel zusammen bequem in einer Hand halten, während die andere Hand an der Fernbedienung nach einem Sender sucht.
Auch das Kaufverhalten hat sich verändert.
Natürlich. Früher kaufte man ein komplettes Tafelservice. Die jungen Leute von heute wollen so etwas nicht mehr. Die haben keinen Platz dafür, aber auch kein Interesse daran. Für die ist es wichtiger, die Reise nach Indien zu finanzieren.
Lassen Sie sich auch von anderen Designern inspirieren?
Von deren Haltung vielleicht. Als Gerrit Rietveld 1919 den rotblauen Stuhl entwarf, war das revolutionär. Damals waren die Leute ja noch komplett in dunklen Farben eingerichtet. Der Stuhl muss für die Menschen wie von einem anderen Planeten gewirkt haben. Aber Rietveld hat sich auch danach immer weiterentwickelt. Und am Ende seines Lebens hat er völlig andere Dinge gemacht. Das inspiriert mich.
Sie haben auch bei Vico Magistretti gelernt.
Der war auch so ein spielerischer Kopf. Das mag ich. Wenn nicht alles in Stein gemeißelt ist. Wenn man sich flexibel aufstellt und es anders macht, weil es die Zeit anders braucht.
Wissenschaftler wissen, dass wir uns nur Dinge vorstellen können, die dem ähneln, was wir bereits gesehen haben. Wie kann man dann überhaupt etwas völlig Neues entwerfen?
Das ist ja das Schwierige daran. Aber darüber nachzudenken und sich hineinzufühlen, wie wir in der Zukunft leben und arbeiten könnten, ist eben Teil des Designprozesses. Das erste Auto sah ja auch nicht gleich aus wie ein Auto, das wir heute kennen. Es war eine Kutsche ohne Pferde. Designer denken die Dinge in Etappen weiter.
Was unterscheidet einen Trend von einer Innovation?
Ein Trend spielt eher mit Themen. Eine Innovation ist für mich eben genau so etwas völlig neu Gedachtes. Oft passiert es, dass eine Firma eine Innovation hervorgebracht hat und ihr dann viele andere Firmen folgen. Dann wird eine Innovation auch zum Trend. Aber einer musste das zuerst ausprobieren. Trends à la „Jetzt wird’s orange!“ sind für mich oberflächlich. Das kann ich nicht. Und das ist für mich auch kein Design.
War Rietvelds Stuhl ein Trend oder eine Innovation?
Das war ein politischer Gedanke. Insofern vielleicht auch eine Innovation. Damals war es aber auch viel wichtiger, neue Produktionsmethoden zu entwickeln. Damit alles klarer wurde und nicht mehr so dekoriert war.
Welche aktuelle Strömung finden Sie überbewertet?
Vermutlich den Minimalismus. Denn wenn man sich wirklich mit Menschen befasst, und zwar auch mit denen, die nicht so „design-minded“ sind, dann stellt man fest: die mögen gerne Tralala, die mögen Dekoration. Schon die Höhlenbewohner haben dekoriert. Und das würde ich mir auch für deutsches Design wünschen: wieder ein bisschen mehr Tralala. Etwas sauber zu fertigen, ist super. Aber in Deutschland denkt man, Design müsse quadratisch sein oder rund oder dreieckig und schwarz, silber oder aus Aluminium und rostfrei. Das sehe ich nicht so. Ein Produkt muss Charakter haben. Es muss nicht unbedingt über-dekoriert sein, aber es muss ein bisschen mehr Freund sein als es ein Aluminium-Zylinder sein kann.
Sind das für Sie Kriterien eines guten Designs? Dass das Produkt mehr zu einem Freund wird, mehr Seele bekommt?
Ein guter Entwurf muss selbst erklären, was man mit ihm anstellen soll. Wie soll sich der Benutzer sonst auch angesprochen fühlen, ihn überhaupt zu benutzen? Es gibt sehr viele schöne Signale, die man mit Design aussenden kann. Und dazu braucht es manchmal nur einen Griff, der verändert, wie wir den Topfdeckel abnehmen oder eine Schublade herausziehen. Doch man muss auch vorsichtig sein. Denn wenn ein Design zu sehr schreit, und das ist eben der Gedanke hinter diesem Aluminium-Feuerlöscher, dann läuft es Gefahr, sich schnell zu überleben. Man muss eine gute Balance finden zwischen der Zeitlosigkeit eines Produkts und dessen Charakter.
Gibt es berechenbare Klassiker? Dinge, die immer funktionieren?
So etwas wie einen Trick meinen Sie? Wenn es so einfach wäre, wäre es wohl nicht Design. Bei mir ist es eher so, dass eben nichts entsteht, wenn mir nichts Gutes einfällt.
Für Iittala haben Sie den Hocker „Plektra“ entworfen, der auch ein Beistelltisch sein kann. Über das Produkt sagen Sie selbst, es sei „nicht komplizierter als es eben sein muss“. Muss gutes Design überhaupt kompliziert sein?
Nein. Aber es sollte auch nicht so unkompliziert sein wie …
Der schwarze Feuerlöscher?
Ganz genau! Und da ich schon wieder an ihn denken muss, hat er mich wohl doch mehr beeindruckt als ich dachte. Trotzdem hat der Hocker „Plektra“ mehr Charakter, auch wenn er ebenfalls einfach ist.
Was für einen Charakter denn?
Meine Mutter hat früher immer zu mir gesagt, dass man nicht auf Beistelltischen sitzt. Aber in unseren kleinen Wohnungen von heute ist ein Beistelltisch, der auch ein Hocker sein kann, vielleicht gar nicht so schlecht. Und passt ein Beistelltisch nicht eigentlich auch besser zu Iittala, wo man die Kaffeetassen drauf abstellen kann? Daher war dieser Hybride meine Idee. Denn Iittala wollte eigentlich nur einen Hocker von mir.
Ist Nachhaltigkeit ein guter Wille der Industrie oder verlangen es die Konsumenten?
Es ist auch Marketing. Aber die heutigen Kunden sind nicht mehr so unwissend. Die sind oft viel weiter als die breite Industrie. Besonders junge Leute haben ein ganz anderes Gefühl für Status. Wir haben heute alles in unseren Telefonen und Laptops. Und wenn der Rest des Lebens in einen Koffer passt, ist das noch besser. Das ist auch eine Aufgabe, der sich eine Messe wie die Ambiente stellen muss.
Arbeiten Sie aktuell mit nachhaltigen Materialien?
Ja. Beim Entwurf eines Spritzguss-Stuhls zum Beispiel. Was spannend ist. Denn mit nachhaltigem Plastik versuchen gerade Viele zu arbeiten. Vor 25 Jahren habe ich schon ein Sample eines Bio-Plastiks bekommen. Daraus könnte man zum Beispiel einen Golf-Tee herstellen. Wenn man den dann auf dem Platz vergessen würde, wäre das kein Problem. Der würde sich einfach zersetzen. Einen Stuhl daraus zu machen ist allerdings komplizierter. Denn das ist Konstruktionsarbeit. Da soll ja später ein Mensch drauf sitzen können.
Auf der Ambiente wurde wieder der Negativpreis Plagiarius vergeben. Ist das auch etwas, das Konsumenten steuern?
Viele Menschen können sich vieles einfach nicht leisten. Und die kaufen dann eben das billigere Duplikat. Das ist auch etwas, womit man als Designer zu kämpfen hat. Man kann ja die tollen Vorstellungen von ökologischem Anspruch haben. Aber wer das Geld nicht hat, dem kann man nicht vorwerfen, dass er das vielleicht minderwertige Produkt kauft. Es ist eben günstiger. Man muss vorsichtig sein, dass man da nicht unfair wird. Obwohl es natürlich auch eine Frage der Priorität sein kann. Man kann auch sagen ich kaufe keine Kopien und spare lieber ein bisschen länger.
Muss denn gutes Design immer teuer sein?
Nein. Es muss nur klug durchdacht sein.
Welches Produkt ist denn gut durchdacht, aber erschwinglich?
Da gibt es auch Dinge, die nicht von großen Designern entworfen wurden. Zum Beispiel hat sich in Südamerika jemand überlegt, wie man in Wellblechhütten ohne Strom für mehr Licht sorgt. Und zwar indem man Chlorwasser in eine Coca-Cola-Flasche gibt und diese durch die Wellblechdecke steckt. Die Riffelung der Flasche wirkt dabei wie eine Linse. So etwas entsteht von Leuten, die andere Probleme haben als die neuesten Trends zu shoppen.
Hansjerg Maier-Aichen hat dieses Jahr zum letzten Mal auf der Ambiente durch die Bereiche Living & Giving geführt. Dabei ist er auf Authentizität von Produkten eingegangen und hat erklärt, was ein Produkt braucht, um sich im Wettbewerb durchzusetzen. Nächstes Jahr übernehmen Sie seine Position. Was werden Ihre Themen sein?
Für mich ist interessant, wie man als traditionelle Marke mit der Zeit gehen kann. Es gibt auch im Bereich Porzellan schon neue Technologien. Kahla zeigt das dieses Jahr auf der Ambiente. Und auch Royal Delft befassen sich damit. Das sind Firmen, die reflektieren sich. Damit bleiben sie immer am Puls der Zeit. Aber wie machen sie das, ohne ihre Firmengeschichte nicht zu verzerren? Solche Fragen sind relevant.
Welchen Herausforderungen muss sich der Handel zukünftig stellen?
Durch Onlineshopping hat man direkt mit dem Kunden zu tun. Das stellt nicht nur an den Handel völlig neue Anforderungen, sondern auch an mich als Designerin. Als Thonet 1859 den Stuhl Nr. 14 entworfen hat, hat er gleich auch an die Verpackung gedacht. Man konnte in einen Kubikmeter Rauminhalt 36 zerlegte Stühle inklusive der Schrauben verpacken. Das war in einer Zeit, in der halb Europa nach Amerika rüberwanderte. Da brauchten italienische Großfamilien viele günstige Stühle. Die Thonets haben damals erstmalig gute Produkte für einen günstigen Preis massenanfertigen lassen. Knapp 100 Jahre später kam Ikea. Die entwickelten noch flachere Verpackungen. Und mittlerweile sind wir in einer Zeit, in der die Kunden von mir verlangen, dass ich das Dreisitzersofa so entwerfe, dass es durch den Briefschlitz zugestellt werden kann.
Kann Design denn jemals die perfekte Lösung liefern?
Design ist wie Sudoku. Man muss neun Ziffern in ein Raster bringen. Dazu zählen Nachhaltigkeit und eine intelligente Produktion. Und die Interaktion mit dem Menschen. Und Psychologie und Schönheit. Und dass es klug gemacht ist. Und dass es in zehn Jahren immer noch passt. Das ist ein ziemlich komplexes Ding. Es gelingt nicht immer allen, dieses Sudoku zu lösen. Aber es macht so unglaublich viel Spaß, es zu versuchen.